Warum Beethovens Neunte ein Grundbedürfnis
von Robin Gerke. Westfälische Nachrichten vom 11. September 2024.
Ein Orchester spielt eine Sinfonie – mehr nicht. Und dann auch noch eine, die sowieso alle kennen. Alle klatschen ergriffen und gehen nach Hause. Muss das sein? Unbedingt.
Münster. Das erste Sinfoniekonzert der neuen Spielzeit am Theater Münster war so konventionell, wie man es sich nur vorstellen kann. Genau ein Werk stand auf dem Programm, und zwar eines, das geläufiger kaum sein könnte: Beethovens 9. Sinfonie. Und das war gut so.
Orchester wie das am Theater Münster bemühen sich oft um ausgeklügelte Programme. Ein bestimmtes Thema wird über mehrere musikgeschichtliche Epochen beleuchtet, oder es werden selten gespielte Werke und Komponisten in den Fokus gerückt. Prima, schließlich gehört es zum Auftrag eines Stadttheaters, neue, innovative und oftmals spannende Musikformate zu entwickeln, auch wenn diese nicht immer den Saal füllen.
Aber gerade zum Auftakt einer neuen Spielzeit darf ein Orchester sich und seiner Stadt auch einfach mal ein Werk gönnen, das für sich stehen kann. Und wenn ein Werk dieses Kriterium erfüllt, ist es Beethovens Neunte. Man könnte jetzt große Reden schwingen von der Bedeutsamkeit dieser Sinfonie. Dass sie auf einem Sockel mit Goethes Faust oder gar der Bibel steht, dass ihr vierter Satz mit der „Ode an die Freude“ zur Hymne der freien Welt geworden ist. Dass, sie zu hören, ein Stück Menschsein ist. Stimmt zwar alles, ist aber nicht der springende Punkt. Es sind schlicht 70 Minuten großartige Musik.
Und diese Musik im voll besetzten Großen Haus erleben zu dürfen, erfüllt eine Art musikalisches Grundbedürfnis. Sicher gibt es Aufnahmen, die außergewöhnlicher sind als Golo Bergs Interpretation an diesem Abend. Im heimischen Wohnzimmer gibt es auch keine Konzertbesucher, die ihr Gespräch mit dem Sitznachbarn unbeschwert bis weit in den ersten Satz fortführen. Das Live-Erlebnis lohnt sich dennoch.
Zum Beispiel, weil Golo Berg über lange Strecken das Zarte, Subtile herausarbeitet, sodass die buchstäblichen Paukenschläge und Knalleffekte umso heftiger wirken. Dabei helfen auch die knackigen, aber nie übereilten Tempi, bei denen das Orchester eine souveräne Präzision an den Tag legt. Der dritte Satz lädt mit elegant gespannten Melodiebögen zum Augenschließen und Schwelgen ein.
Wenn die tiefen Streicher die wohl bekannteste Melodie der Klassikwelt zum ersten Mal vollständig anstimmen, baut sich etwas auf, das über das Musikalische weit hinausgeht. Dabei ist das Musikalische schon spektakulär genug: Wo Johan Hyunbong Choi (Bariton) mit jovialem Nachdruck zu angenehmeren, freudenvolleren Tönen aufruft, steigt Tenor Sung Min Sung derart beherzt ein, dass einem zumindest in der vierten Reihe die Ohren klingeln. Robyn Allegra Parton (Sopran) und Wioletta Hebrowska (Mezzo) schaufeln jede Menge fein ausgearbeiteten Glanz hinzu, während der Opern- und Philharmonische Chor das große Freudenfeuer zündet.
Zündeten ein Freudenfeuer: Chor und Orchester unter Golo Berg samt Solistenquartett (hier: Robyn Allegra Parton und Sung Min Sung)
Foto: Robin Gerke