Zuflucht vor der Betriebsamkeit
Wunderschön: Das Quempas-Singen in der St.-Joseph-Kirche
von Günter Moseler, Westfälische Nachrichten, Sonntag, 15.12.2019, 15:32 Uhr
Münster – Gegen die hektische Betriebsamkeit vor Weihnachten hilft eine schöne Tradition: das Quempas-Singen.
Vielleicht ist Weihnachten im Innersten eine verklärte Kindheitserinnerung. Etwas, dessen Wahrheitsgehalt sich mit zunehmendem Alter zu einer Erinnerungsfestung verdichtet, indem Großaufnahmen und Details sich zum uneinnehmbaren Wunschbild fügen. Tannenbäume, Kerzenduft, Schnee, Stille, Lieder, die man nie vergisst – und manchmal sogar Geschenke. Inzwischen werden andere Festtagsakzente gesetzt, es mangelte früheren Zeiten vielleicht nur an heutigen Möglichkeiten. Der Weihnachtsstress hat überlebt. Das alljährliche „Quempas“-Singen ist ein sicherer Zufluchtsort vor hektischen Betriebsamkeiten: Lieder, die (fast) jeder kennt, eine restlos überfüllte Kirche und eine Gemeinde, deren Gesang nicht Lippenbekenntnis bleibt.
Das „Quempas“-Singen fand diesmal nicht in der baulich gefährdeten Petrikirche statt, und doch vermittelte die Weiträumigkeit der Pfarrkirche St. Joseph eine festliche Atmosphäre. Anstelle von Wohnzimmerbonus dominierte hier neugotischer Aufschwung, der das konzertante „Glanz und Gloria“ wie einen berühmten Passagier barg. Es war, wie es immer war, und war doch neu, weil die Schlüssigkeit barocker Musik, traditionellen Liedguts und alter Texte stets weniger „sicher“ im Gedächtnis scheinen.
Andreas Hammerschmidts Motette „Machet die Tore weit“ eröffnete das Konzert, gefolgt von „Wir sagen euch an den lieben Advent“, für den die (Konzert-)Gemeinde den Refrain „Freut euch ihr Christen, freuet euch sehr“ anstimmen durfte. Kristallklar intonierte der Kinderchor Gymnasium Paulinum das alte Adventslied „Angelus ad virginem“ und ein händelsches „Halleluja“, bevor mit „Macht hoch die Tür“ ein Weihnachtsklassiker mit Macht den Kirchenraum erfüllte. Für Vivaldis „Gloria“ zog der Dirigent das Tempo im Eröffnungssatz straff an und boten der Philharmonische Chor wie Anna-Sophie Brosig (Sopran) und Katharina Guglhör (Mezzosopran) in den Solopartien lebhafte Attacke wie lyrische Intensität. Zwei Sätze aus Bachs Konzert für Oboe d’amore und Streicher A-Dur interpretierten Martin Jelev und das Göttinger Barockorchester unter Martin Henning zart und wie in geheimer Ehrfurcht vor unsterblicher Musik. „Es ist ein Ros entsprungen“, hieß es dann und in „Zu Bethlehem geboren“ hätte es die Gelegenheit eines aufflammenden Déjà-vu geben können, in vollkommener Übereinstimmung mit der Illusion „Weihnachten“: Ein bewegender Moment, auch weil es klang, als verdanke sich das Identitätsstiftende der Musik glücklicher Kindheit.