Singuläres Ereignis
Edward Elgars „Dream of Gerontius“ | 17./18. Mai 2003 | Lambertikirche Münster
Christoph Schulte im Walde, Westfälische Nachrichten, 19. Mai 2003
Mit guten, auch herausragenden Konzerten ist das Münsterland reich gesegnet. Etwas anderes, darüber weit hinausgehendes aber sind diese ganz seltenen, kostbaren Erfahrungen mit Musik, die eigentlich kaum in Worte zu fassen sind. Wo grenzenloser Beifall ein eher schwaches Mittel ist, einem durch und durch intensiven Konzert-Erleben Respekt zu zollen.
So ging es am Samstagabend in Münsters gänzlich überfüllter Lambertikirche. Martin Henning vermittelte dort einen visionären Blick hinein ins Paradies, ins himmlische Jenseits, wo weder Leid noch Tränen sind. Dorthin nämlich führt der Weg des Gerontius. Doch ganz umstandslos ist die ewige Glückseligkeit nicht erreicht. Das wusste John Henry Newman genau. Und so machen sich in der Dichtung des katholischen Kardinals „The Dream of Gerontius“ die tiefen menschlichen Gefühle von Hoffen und Bangen, von Glaubensgewissheit und nagendem Zweifel breit im Angesicht des nahen Todes.
Edward Elgar schuf dazu eine unglaublich faszinierende Musik, ein Klangtableau von betörender, in jeder Sekunde packender Emotionalität. Das erfordert ein personelles Riesenaufgebot. Um Hennings Philharmonischen Chor herum versammelten sich der Kammerchor Rheine, die „Musical Society“ aus Münsters britischer Partnerstadt York und der Mädchenchor am Kölner Dom – singende Hundertschaften, die nicht die geringsten Wünsche offen ließen. Was auch für die fabelhafte Christiane Alt-Epping an der großen Orgel sowie das glänzend aufgelegte Symphonieorchester der Stadt Münster galt.
Edward Elgar schafft Bilder, wie ein Hieronymus Bosch sie kaum dichter, erschütternder, ja Furcht einflößender hätte malen können. Rabenschwarze Trauermärsche ziehen vorüber, gipfeln im höllischen Gelächter der Dämonen. Mitten darin die Seele des Gerontius auf dem Weg zu ihrer Erlösung. Justin Lavender durchlebte mit jeder Faser seines Körpers diese wahnsinnige Spannung und setzte sie mit umwerfender Stimmgewalt um – als sei es seine einzige Aufgabe als Künstler, Elgars „Gerontius“ Leben einzuhauchen. Kann man sich das besser, ergreifender vorstellen als von diesem Ausnahmetenor?
Markus Eiche, nicht minder glaubwürdig, verkörperte das irdische Diesseits mit seinem markigen, raumgreifenden Bariton. Die dritte Figur ist der Engel, der Gerontius auf dem Weg zum Höchsten Richter begleitet: Susanne Schaeffer (Mezzosopran) tat das mit überragender Einfühlsamkeit. Man reibt sich die Augen: In England zählt Elgars „Gerontius“ nach Händels „Messias“ zum populärsten oratorischen Werk – bei uns muss es erst noch entdeckt werden.
Der große Aufwand, darf dabei nicht unterschätzt werden. Doch gibt es bessere Botschafter für Elgars großes Oratorium als Martin Henning und seine Mitstreiter, die das Werk so mit Fleisch und Blut ausfüllten, es so dramatisch und mit Hingabe in Szene setzten? Dieser Abend wurde zu einem singulären Ereignis.